Der Straftatbestand der Nichtabführung der Mehrwertsteuer wird in Art. 10-ter des gesetzesvertretenden Dekretes (GvD) vom 10.03.2000, Nr. 74 geregelt. Abgestellt wird auf Personen, die es innerhalb der gesetzlich vorgesehen Fristen unterlassen, die aus einer Jahreserklärung hervorgehende Mehrwertsteuerschuld zu begleichen. Das Strafmaß reicht dabei von sechs Monaten bis zu zwei Jahren Haft. Zur Erfüllung der Straftatbestände reicht grundsätzlich das Vorliegen eines allgemeinen Tatbildvorsatzes (dolo generico) aus. Dies bedeutet, es ist lediglich nachzuweisen, dass ein Steuerpflichtiger sich bewusst war, die geschuldeten Beträge nicht abzuführen. Insbesondere dieser Aspekt wurde verschiedentlich kritisiert. Äußere Umstände, die es objektiv unmöglich machten, die geforderten Zahlungen durchzuführen, könnten so nicht berücksichtigt werden.
Um Härten der Regelung entgegenzuwirken, wurde regelmäßig dahingehend argumentiert, die Nichtabführung der Steuern sei in diesen Fällen höherer Gewalt (Art. 45 StGB) oder einer Notstandssituation (Art. 54 StGB) geschuldet. Dies konnte zu Straffreiheit führen. Ein einfacher Verweis auf Liquiditätsprobleme reichte hierzu jedoch nicht aus. Vielmehr wurde der Nachweis gefordert, dass es unmöglich gewesen sei, anderweitig Mittel für die Begleichung der Steuerschulden zu akquirieren. Die unerwartet ausgebliebene Liquidität durfte dem Steuerpflichtigen nicht zuzurechnen sein (z.B. Cass. pen. n. 5467/2013; n. 20777/2014; n. 31930/2015). Lagen diese Voraussetzungen vor, bestand eine Rechtfertigung für die Nichtabführung der Steuerschuld. Insbesondere berücksichtigt wurden dabei folgende Faktoren: Entscheidungen, Löhne auszuzahlen; die Verschärfung einer Unternehmenskrise bis hin zur Inanspruchnahme von Konkursverfahren; das Vorliegen eines Restrukturierungsplans mit Banken; die Verwendung eines Teils des persönlichen Vermögens; die Kürzung (oder Streichung) eigener Vergütungen für die Tätigkeit als Geschäftsführer. Auch das Nichteintreiben von Rechnungen mit Mehrwertsteuer konnte dabei ausschlaggebend sein (Cass. pen., sez. III, 01.12.2017, n. 29873).
Dies hielt der Kassationsgerichtshof im Urteil vom 24.02.2022, Nr. 19651 nun erneut fest. Die unterbliebene Eintreibung von Rechnungen mit Mehrwertsteuer durch einen Unternehmer könne einen Tatbildvorsatz (dolo generico) ausschließen. Dies sei insbesondere der Fall, wenn die noch offenen Verbindlichkeiten einen erheblichen Teil des Umsatzes des Unternehmens ausmachten (als erheblich waren zuvor etwa nicht eingetriebene Rechnungen in Höhe von 43 Prozent des Umsatzes angesehen worden; so Cass. pen., sez. III, 05.05.2021, n. 31352) und Anstrengungen unternommen worden seien, diese einzutreiben bzw. Liquidität zu generieren. Im Anlassfall hat der Beschuldigte etwa Banken ersucht, Darlehen zu gewähren, begleitet durch Bürgschaften und erhebliche persönliche Aufwendungen. Auch war dem Fiskus vorgeschlagen worden, die Steuerschuld in Raten zurückzuzahlen.
Unlängst wurde in der Abgeordnetenkammer ein Gesetzentwurf zur Regelung der Strafausschließungsgründe bei Nichtabführung von Steuereinbehalten und Mehrwertsteuern vorgelegt. Hervorgehoben werden darin insbesondere eine etwaige Nichtzurechenbarkeit der Nichtabführung sowie die ausdrückliche Erwähnung eines Vorsatzes zur Steuerumgehung. Derzeit liegt der Entwurf im Justizausschuss.
Zu Änderungen kam es auch bezüglich des Straftatbestands der Nichtabführung erklärter Steuereinbehalte. Dieser wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 14.07.2022, Nr. 175 in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Mit der Bestimmung in Art. 10-bis des GvD Nr. 74/2000 werden Steuerpflichtige bestraft, die es innerhalb der Frist der entsprechenden Steuererklärung unterlassen, die in dieser angeführten oder anderweitig von Steuersubstituten bescheinigten Steuereinbehalte, zu entrichten. Dies setzt das Überschreiten gewisser Schwellenwerte voraus. Vorgesehen ist auch hier eine Haftstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren.
Für verfassungswidrig erklärt wurde insbesondere jener Teil der Bestimmung, der auf die Erklärung selbst verwies („dovute sulla base della stessa dichiarazione“). Die Formulierung war mit GvD 158/2015 eingeführt worden, überschritt nach Ansicht des Gerichtshofs jedoch die im Ermächtigungsgesetz vorgeschriebenen Befugnisse. Strafbar ist damit nur noch die Nichtabführung von bescheinigten Steuereinbehalten (ritenute certificate). Einbehalte, die aus einer Erklärung hervorgehen, für die jedoch keine Bescheinigungen ausgestellt wurden, werden lediglich mit einer Verwaltungsstrafe geahndet.
Lorenz Ebner
Paul Patreider