Gleicher Schmerz, ungleicher Schadenersatz

Gastbeitrag von Assoz. Prof. Dr. Gregor Christandl, LL.M. (Yale)
Institut für Italienisches Recht (Privatrecht) an der Universität Innsbruck

Wie wird ein Gesundheitsschaden in Euro bemessen? Und wie der Schmerz einer Frau, deren Mann bei einem Unfall stirbt? Das hängt ganz davon ab, ob man sich dies- oder jenseits des Brenners verletzt oder stirbt. In Italien sind die zugesprochenen Schadenssummen um ein Vielfaches höher als in Österreich oder Deutschland.

Ein konkretes Beispiel: Ein Neugeborenes hat in einem Südtiroler Spital bei der Geburt einen irreparablen Gehirnschaden erlitten und wird sein Leben lang ein schwerer Pflegefall bleiben. Die Schlichtungsstelle für Arzthaftungsfragen schlug 2 Millionen Euro Schadenersatz vor, die Eltern verlangten 5 Millionen Euro. Der Fall behängt noch vor Gericht.

Die höchste in Österreich je zugesprochene Summe betraf den Fall eines 9-jährigen Kindes, das seit dem zweiten Lebensmonat aufgrund eines Arztfehlers an einer irreparablen Hirnschädigung litt, mit absoluter Immobilität, lebenslanger Pflegebedürftigkeit, völlig verzerrten Sinneswahrnehmungen und Sprechunfähigkeit. Beantragt wurden 400.000 Euro, zugesprochen wurden vom Landesgericht Innsbruck 2016 schließlich 250.000 Euro. Für einen solchen Fall, der in Italien wohl einer permanenten Invalidität von 100 Prozent entspräche, stünde nach italienischem System eine Summe von bis zu 1,5 Millionen Euro zu.

Ein anderes Beispiel: Der Verlust des rechten Unterarms würde bei einem 10-Jährigen rund 663.000 Euro Schadenersatz bedeuten. Bei einem 70-Jährigen 455.000 Euro. In Deutschland wurde 2017 ein 48-Jähriger vom Oberlandesgericht Hamm in Nordrhein-Westfalen mit 50.000 Euro entschädigt.

Die Berechnung des Gesundheitsschadens

Warum diese Unterschiede? In Italien wurden in den 1970er Jahren mithilfe von Rechtsmedizinern Tabellen entwickelt, die später von den Gerichten übernommen wurden und heute als Maßstab für die Berechnung von Gesundheitsschäden herangezogen werden. Führend ist dabei die Mailänder Tabelle. Diese Tabellen sind so gestaltet, dass sie für die bleibende Invalidität in einem Ausmaß von 1-100 Prozent jedem Prozentpunkt einen Geldwert zuordnen, der in Abhängigkeit vom Alter des Verletzten und der Höhe der Gesamtinvalidität variiert. Grundsätzlich gilt, je älter der Verletzte, desto weniger steht ihm für einen Prozentpunkt bleibender Invalidität zu. Die Grundsumme je Prozentpunkt war ursprünglich anhand eines abstrakten, italienischen Durchschnittseinkommens errechnet worden. Aber sie hat sich mittlerweile gänzlich verselbstständigt. Und weil im Einzelfall der Invaliditätsgrad immer durch einen Rechtsmediziner bemessen wird, haben sich die Rechtsmediziner in Italien mit diesem System eine dauerhafte wie attraktive Einkommensgrundlage geschaffen.

Hinterbliebenen-Schmerz: Haushohe Unterschiede

Aber hierzulande gibt es nicht nur viel höhere Schadenersatzzahlungen bei Gesundheitsschäden, sondern auch ein ungleich höheres Schmerzensgeld für Hinterbliebene („danno morale“). Hier handelt es sich um eine Geldsumme, die nahen Angehörigen ausgezahlt wird, die aufgrund von Fremdverschulden jemanden verloren haben. Als nahe Angehörige gelten: Ehepartner/Lebensgefährte, Kinder, Eltern, Geschwister und auch Großeltern. Dabei müssen sie nicht unbedingt im selben Haushalt gewohnt haben. Es muss nur bewiesen werden, dass es ein sehr enges Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und dem Angehörigen gegeben hat. Beim Verlust eines Kindes reicht der Ersatz von 165.000 bis 332.000 Euro.

Und wie schaut es in Österreich aus? Dort gibt es ein Trauerschmerzensgeld für Angehörige erst seit 2001 und auch nur, wenn der Tod vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht wurde. Und dann sind die Summen unvergleichbar geringer. Bisher wurden Beträge zwischen 9.000 und 24.000 Euro zugesprochen. Bei einem normalen Verkehrsunfall gibt es in der Regel kein Trauerschmerzensgeld. In Deutschland gab es bis vor kurzem überhaupt kein Hinterbliebenenschmerzensgeld. Erst 2017 wurde es per Gesetz eingeführt. In einem kürzlich entschiedenen Fall erhielt die Ehefrau eines bei einem Unfall getöteten Motorradfahrers 12.000 Euro, die Kinder jeweils 7.500. Und der Lieblingsbruder, der den Unfall miterlebt hat, 5.000 Euro.
 

Assoz. Prof. Dr. Gregor Christandl ist Professor am Institut für Italienisches Recht (Privatrecht) an der Universität Innsbruck und Gastprofessor an der Università degli Studi di Padova. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im vergleichenden Erb- und Schuldrecht, im europäischen Privatrecht, der Privatrechtsvergleichung und dem internationalen Privatrecht mit Schwerpunkt Italien, Österreich und Deutschland.

Hinweis: Dieser Beitrag ist inhaltsgleich erschienen in der Tageszeitung Dolomiten vom 02.12.2019